„Wenn die Erlösung (…) auf Erden nicht von Anfang an gegenwärtig gewesen wäre, wir könnten Gott nicht vergeben (…), dass er das Unglück so vieler Unschuldiger, Entwurzelter, Geknechteter, Gefolterter und Gemordeter im Laufe der Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung zugelassen hat.“
Mit diesen Worten versucht Simone Weil die Kraft der Passion Christi auszudrücken. Diese ist für sie keineswegs ein punktuelles Ereignis. Überall dort, wo es auf Erden Verbrechen und Unglück gibt, ist der gekreuzigte Sohn Gottes gegenwärtig.
„Die Passion lag noch in der Zukunft. Heute ist sie Vergangenheit. Vergangenheit und Zukunft sind symmetrisch. Der Chronologie kann keine entscheidende Rolle zukommen in einem Verhältnis zwischen Gott und Mensch, einem Verhältnis, dessen eines Glied ewig ist.“ Dieser ‚geometrischen‘ Perspektive, von der aus Simone Weil das Leiden Christi betrachtet, liegt die Totalität der Gottesoffenbarung (‚durch alle Zeiten hindurch‘) zugrunde. Ebenso wie die Nächstenliebe scheint für Simone Weil das Leiden völlig universal zu sein, indem es die Menschen aller Zeiten betrifft. Die französische Philosophin war fest davon überzeugt, dass das Leiden letztendlich eine Möglichkeit ist, zur Wirklichkeit zu gelangen. Im Schmerz und im Leiden ist die Wirklichkeit ‚am wirklichsten‘. Dieses Bewusstsein bringt sie vom Glück nicht weg, ganz im Gegenteil, es führt sie weiter in die Wirklichkeit der Liebe hinein: „Gottes Liebe zu uns ist Passion.“ Daraus lässt sich ableiten, dass alle Leidenden bereits den Anteil an Gottesliebe, die die Passion (Christi) ist, erhalten haben. Doch um die Liebe durch das Leiden hindurch zu empfinden muss der Mensch von einer Kraft ergriffen werden, die vernunftmäßig kaum zu fassen ist. Diese Erfahrung war auch Simone Weil gegeben, die die Möglichkeit einer unmittelbaren, persönlichen Berührung mit Gott in ihren philosophischen Überlegungen einfach nicht vorausgesehen hatte.
Von Januar bis Juni 1938 wurde Simone Weil aufgrund intensiver Kopfschmerzen krankheitsbedingt beurlaubt. Leider waren die Ärzte angesichts ihres Leidens ohnmächtig. Der schlechte gesundheitliche Zustand hinderte die Philosophin jedoch nicht daran, sich auf eine Reise nach Solesmes zu begeben um dort die Zeit von Palmsonntag bis Osterdienstag zu verbringen. Den besonderen Schwerpunkt des spirituellen Lebens der Mönche bildete die Restitution des Gregorianischen Gesanges.
Weils großes Anliegen war es, trotz heftiger Migräneanfälle an allen Gottesdiensten der Ordensgemeinschaft teilzunehmen. „Ich hatte bohrende Kopfschmerzen; jeder Ton schmerzte mich wie ein Schlag; und da erlaubte mir eine äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten, es in seinen Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene Freude zu finden.“
(aus der Magisterarbeit von Sr. R.K.)